Die Eigenschaften jedes Lebewesens werden sowohl durch seine genetische „Ausstattung“ als auch durch Umwelteinflüsse bestimmt.

Die Gesamtheit aller Gene bezeichnet man als Genom. Da sich die DNA von Generation zu Generation minimal ändert (Mutationen), entstanden im Laufe der Zeit für jedes Gen viele unterschiedliche Varianten. Manche dieser Veränderungen wirken sich nachteilig aus (im Extremfall sogar tödlich) und verschwinden deshalb im Laufe der Evolution wieder. Andere Veränderungen haben keinen Effekt auf die „fitness“, andere wiederum können von Vorteil sein und können sich in einer Population entsprechend ausbreiten.

Die Gesamtheit aller auftretenden Gen-Varianten bezeichnet man als Genpool. Je mehr Individuen in einer Population zusammenleben, desto größer kann der Genpool sein.
Würde man eine Population aus 10 nicht-verwandten Tieren betrachten, wäre deren Genpool größer als bei einer Population aus 10 Geschwistern.

Oft hört man den Begriff des „Genverlusts“. Dieses Wort wird leider meistens falsch verwendet, denn natürlich geht niemals ein Gen verloren, sondern es geht eine bestimmte Variante eines Gens verloren. Ein Bespiel hierfür wäre das sogenannte LUA-Gen: Bereits sehr früh in der Dalmatiner-Zucht hat sich eine Veränderung dieses Gens „eingeschlichen“; diese Veränderung führte vermutlich zu optischen Vorteilen (bessere Fleckung), hat unbemerkt aber auch zu einer Störung des Harnsäure-Ausscheidungswegs geführt. Da in der Zucht eben der Mensch und nicht die Natur für die Selektion verantwortlich ist (in freier Wildbahn wäre diese Mutation aufgrund der gesundheitlichen Nachteile sicherlich ausgestorben), hat sich diese veränderte Variante („HUA“) in kürzester Zeit in der Rasse verbreitet, so dass die ursprüngliche „LUA“-Variante komplett verloren ging und erst durch Rückkreuzung mit einem Pointer wieder in die Rasse eingebracht werden konnte.

Was bedeutet Verarmung des Genpools?

Wenn Genvarianten in einer Population dauerhaft verloren gehen, spricht man von Verarmung des Genpools. Dies ist nicht in Bezug auf ein einzelnes Gen gemeint, sondern auf die Gesamtheit aller Varianten aller Gene. Jede Population braucht ein gewisses Maß an unterschiedlichen Gen-Varianten, um überlebensfähig zu sein. Die unterschiedlichen Varianten werden in jeder Generation neu kombiniert und sorgen somit dafür, dass sich die Population z.B. an geänderte Umweltbedingungen anpassen kann.
Als bekanntes Beispiel sei hier das Immunsystem genannt: Für ein „gesundes“ Immunsystem müssen die Varianten einiger Gene möglichst unterschiedlich sein. Sind diese Genvarianten zu ähnlich, kann es z.B. zu Allergien und anderen Immunschwächen kommen.
In der Biologie geht man davon aus, dass für den Erhalt einer Population mindestens 80 bis 100 Tiere nötig sind, die möglichst wenig verwandt sein müssen, damit die Population dauerhaft „überleben“ kann. Dies spielt vor allem beim Erhalt seltener Tierarten eine wichtige Rolle.
Bei der Hundezucht ist zu beachten, dass Hunde ja Würfe mit mehreren Welpen bekommen, also in einer Population viele Vollgeschwister, Halbgeschwister und sonstige nahe Verwandte existieren. Insofern muss eine Hunde-Population also aus wesentlich mehr als 100 Tieren bestehen, um eine ausreichende Gen-Vielfalt zu repräsentieren.

Warum ist die Selektion auf seltene Merkmale schädlich?

Züchtet man ausschließlich mit Blick auf ein einziges (seltenes) Merkmal, steht dem Züchter nur eine geringe Auswahl an Zuchttieren zur Verfügung. Somit startet ein solches Zuchtvorhaben bereits mit einem verarmten Genpool. Zwangsläufig werden bei allen anderen Merkmalen dann „Kompromisse“ eingegangen. Als Beispiel sei hier die Zucht auf seltene Fell-Merkmale beim Dalmatiner (lemon/orange, brindle, Langhaar,…) genannt. Da diese Merkmale laut Rasse-Standard unerwünscht sind, kommen die zugehörigen genetischen Varianten in der Rasse-Population nur selten vor. Möchte nun ein Züchter eine seltene Farbe züchten, muss er zwei Elterntiere finden, die die entsprechenden Merkmale tragen. Hierbei wird der Züchter zwangsläufig andere Kriterien (z.B. anatomische Korrektheit) in den Hintergrund stellen. Somit führt die Selektion auf seltene Merkmale zwangsläufig zu Nachteilen bei einer ganzen Reihe weiterer Merkmale. Mittelfristig ergibt sich daraus, dass eine derartige Zucht viele nachteilige Merkmale fördert und somit auch vermehrt zu Krankheiten führt, selbst wenn das selektierte Merkmal an sich gar nicht nachteilig wäre. Am Beispiel des Dalmatiners bedeutet dies, dass die Merkmale lemon oder Langhaar an sich keinerlei negative (aber auch keine positiven) gesundheitlichen Auswirkungen hätten, allerdings eben nur wenige Zuchttiere (die vermutlich in der regulären Zucht aus anatomischen oder charakterlichen Gründen nicht eingesetzt werden würden) zur Verfügung stehen. Der Genpool dieses Zuchtvorhabens ist also von Anfang an viel zu verarmt, und die mangelnde Auswahl an Zuchttieren kann mittelfristig zu Krankheiten und v.a. anatomischen Defiziten führen. Da eine solche Seltenheits-Zucht nur außerhalb der regulären Vereine stattfindet und Zuchttiere aus den Vereinen nicht zur Verfügung stehen, kann auch in zukünftigen Generationen der Genpool nicht erweitert werden. Der Zukauf einzelner Tiere aus den Vereinen ändert diese Situation nicht wirklich.
Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass einige Fachleute die Meinung vertreten, dass lemon z.B. mit ängstlichem Verhalten und schlechter Stressbewältigung in Verbindung stehen könnte, da die Melanin-Verteilung auch in Zusammenhang mit DOPA, Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol steht. Das weiter zu beleuchten, würde jedoch den Rahmen dieses Artikels sprengen.

Warum wird dennoch auf Seltenheit gezüchtet?

Hierfür kann es mehrere Gründe geben. Zum Einen kann zur Verbesserung der Gesundheit eine Seltenheitszucht erforderlich sein, was manchmal nur zum Preis der (momentanen) genetischen Verarmung möglich ist (Beispiel LUA). Zum Anderen gibt es leider Züchter, die sich „am Markt“ orientieren. Tiere mit seltenen Farben lassen sich besser (und teurer?) verkaufen.
Nicht zu vergessen ist jedoch, dass manche Dissidenz-Züchter ihr Vorhaben tatsächlich mit den „besten Absichten“ starten. Sie sind der Meinung, der Rasse zu helfen, indem sie seltene Varianten „bewahren“ und fördern. Sie möchten also einem drohenden „Genverlust“ entgegenwirken, indem sie lemon- oder Langhaar-Dalmatiner züchten. Dieser Gedanke ist zwar löblich, ist jedoch leider grundlegend falsch: eine derartige Zucht kann nur außerhalb des VDH/der FCI stattfinden. Während VDH-Züchtern eine Auswahl an mehreren tausend Zuchttieren zur Verfügung steht (deren Ahnen man dank Ahnentafeln über viele Generationen nachverfolgen kann), steht den Seltenheits-Züchtern nur eine winzige Population von meist 10-20 Tieren zur Verfügung, oftmals ohne reguläre Ahnentafeln. Zwar werden für diese Tiere einige Gesundheits-Tests vorgelegt und für Verpaarungen Inzucht-Koeffizienten berechnet. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Genpool in der Zuchtpopulation viel zu niedrig ist und rein genetisch diese kleine Population keine Chance auf Verbesserung der genetischen Variabilität hat.
Ein Hund verfügt über ca. 20.000 Gene. Wenn man also die Variabilität eines einzigen Gens fördert (z.B. lemon) und hierbei die restlichen 19.999 Gene vernachlässigt bzw. deren Variabilität extrem einschränkt, hat man sowohl der Rasse einen Bärendienst erwiesen, als auch das Risiko extrem gesteigert, Krankheiten und Nachteile zu fördern. Die Zucht auf Seltenheit wäre also nur in extremen Ausnahme-Situationen zu rechtfertigen, z.B. um starke gesundheitliche Verbesserungen zu erwirken. Derartiges Handeln aus rein optischen Gründen ist züchterisch nicht zu verantworten.

Was ist der Unterschied zwischen LUA- und Lemonzucht?

Auf den ersten Blick könnte man beide Zuchtprojekte vergleichen. In beiden Fällen werden seltene Genvarianten gefördert, und es sind genetische „Engpässe“ entstanden. Warum wird LUA-Zucht als als „gut“ und lemon-Zucht als „schlecht“ empfunden? Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens wurde das LUA-Projekt zur gesundheitlichen Verbesserung (Behebung einer Erbkrankheit) durchgeführt, während die lemon-Variante keinen gesundheitlichen Vorteil bringt. Zweitens wurde das LUA-Projekt von Anfang an wissenschaftlich angelegt und dokumentiert (die sinnvolle Durchführung erfordert großes züchterisches und genetisches Wissen, das die Unterstützung von Fachleuten und vielen kompetenten Züchtern voraussetzt). Drittens wurde das LUA-Projekt von Anfang an genauestens dokumentiert, kontrolliert und immer in Zuchtvereinen durchgeführt (erst in USA im AKC und UKC, dann in Europa im KC und den FCI-Mitgliedsvereinen). Somit standen für die Verpaarungen ausreichend „reguläre“ Zuchttiere zur Verfügung. Hierbei muss bedacht werden, dass LUA-Dalmatiner dem Rassestandard entsprechen und somit innerhalb der Rassevereine gezüchtet werden, während lemon-Zucht nur in der Dissidenz oder im „Hinterhof“ möglich ist. LUA-Züchter haben bei den Verpaarungen die Gesamtheit aller anderen Merkmale mit ins Kalkül gezogen, haben Ihre Hunde auf Ausstellungen präsentiert und durch unabhängige Richter beurteilen lassen. Somit konnte das LUA-Projekt in die „reguläre“ Dalmatinerzucht integriert werden, während jegliche Zucht außerhalb der „offiziellen“ Zuchtvereine immer in der Isolation bleiben wird und somit nie die Chance haben wird, eine ausreichend große Population mit variablem Genpool aufzubauen.

Was wäre also zu tun, um Eigenschaften wie lemon züchterisch sinnvoll zu fördern?

Wie bereits dargestellt, kann Zucht nur funktionieren, wenn ein ausreichend variabler Genpool zur Verfügung steht, also einige hundert Zuchttiere zur Auswahl stehen. Das ist in Dissidenz-Vereinen nicht möglich. Verantwortungsvolle Zucht kann also nur im VDH stattfinden, egal ob man diesen Verein „gut findet“ oder nicht. Da in den Zuchtvereinen nur so gezüchtet werden darf, wie es der Rassestandard vorgibt (lemon-Dalmatiner sind zwar nicht „verboten“, dürfen aber nicht in der Zucht verwendet werden, lemon-Träger jedoch schon), müssten die lemon-fans also eine Änderung des Standards erwirken, oder einfach nur mit lemon-Trägern züchten. Die Änderung des Standards ist theoretisch möglich, setzt aber natürlich viel Arbeit und Durchhalte-Vermögen voraus. Genetisch notwendig sind derartige Vorhaben nicht, denn wir sprechen hier über eine einzige Variante eines einzigen Gens, die keinerlei gesundheitliche Vorteile mit sich bringt. Die Farbe der Tupfen ist reine Geschmackssache, also ein Bedürfnis einiger Menschen, nicht der Rasse…

© Dr. Frank Pfannenschmid