Zucht – was ist das?
© Dr. Frank Pfannenschmid

Die Frage „Was bedeutet Zucht?“ könnte man knapp mit den Worten „kontrollierte Fortpflanzung“ beantworten.
Positive Merkmale sollen verstärkt, negative Merkmale minimiert bzw. eliminiert werden. Grundsätzliche „Werkzeuge“ sind entweder gezielte Paarungen (Verpaarung zweier ausgewählter Individuen derselben Rasse/Linie/Gruppe) oder die Kreuzung (Verpaarung zweier Tiere unterschiedlicher Rassen/Linien/Gruppen).

Doch was sind positive Merkmale, was sind negative, und wie erreiche ich deren Verstärkung bzw. Minimierung? In der Nutztierhaltung hat sich der Mensch schon früh mit der „Verbesserung“ von Rassen beschäftigt, vornehmlich von Rindern. Unter Verbesserung verstand man meist die Optimierung einer einzigen Eigenschaft, z.B. Milchleistung oder Fleischproduktion einer Rinderrasse. Der Begriff der „Zuchtwahl“ ist auch in Darwins Evolutionstheorie zu finden. Laut Darwin ist natürliche Zuchtwahl eine Grundlage für Evolution.

Welche Zuchttechniken gibt es?

Hier seien nur drei genannt, die auch für die Hundezucht von Belang sind.

  • Reinzucht: Verpaarung von Tieren derselben Rasse. Dies ist die Standard-Technik für die Rassehundezucht, auch wenn hier auf einige Feinheiten zu achten ist
  • Veredelungszucht: gelegentliches/einmaliges Einkreuzen von Tieren einer anderen Rasse in eine Reinzuchtrasse, um bestimmte Merkmale zu verbessern
  • Verdrängungszucht: Einkreuzen von Tieren einer zweiten Rasse, um ein (negatives) Merkmal der ersten Rasse schrittweise zu verdrängen oder gar zu eliminieren. Diese Technik würde man anwenden, um z.B. genetische Krankheiten zu bekämpfen 

Bis hierhin klingt die Sache ja einfach. Man verpaart also zwei reinrassige Dalmatiner, und schon ist man Züchter? Und wenn man den Dalmatiner verändern möchte, betreibe man Veredelungszucht oder gar Verdrängungszucht? Dalmatiner mit längerem Fell könnte man züchten, indem man z.B. einen Setter einkreuzt und dann in den nächsten Generationen auf das Merkmal „langes Fell“ selektiert?

Nun, ganz so einfach funktioniert es nicht.

Ein Züchter benötigt nicht nur die genannten Grundtechniken, sondern er benötigt eine Menge zusätzliches Wissen. Allein schon die Kenntnis der Rasse ist nicht selbstverständlich und „von heute auf morgen“ zu erwerben. Früher wurden Hunde auf „Funktion“ gezüchtet, beispielsweise wurden Jagdhunde darauf selektiert, wie eifrig sie auf der Fährte arbeiten. Heute sind Hunde meist keine „Arbeitstiere“ mehr, dennoch hat jede Rasse ihre eigene Geschichte und Funktion. Die Summe aller Eigenschaften einer Rasse wird in einem internationalen sogenannten „Rassestandard“ festgehalten (siehe unten).

Zucht bedeutet nicht, die Rasse zu verändern, sondern die Rasse zu erhalten, auch wenn sie heute ihre Funktion nicht mehr ausübt. Nehmen wir als Beispiel den Dalmatiner: früher als Kutschen-Begleithund genutzt, war der Dalmatiner ein ausdauernder Läufer. Ein Teil seiner Gesundheit beruht noch heute darauf, den harmonischen Körperbau eines Dauerläufers zu haben, auch wenn er heute nicht mehr 50 km im Pferde-Tempo durchhalten muss.
Ein kompetenter Züchter verfügt nicht nur über die Kenntnis des „Standards“ seiner Rasse, sondern er weiß auch, wie dieser Standard zu verstehen ist. Dieses Wissen ist nicht allein durch Bücher oder Internet zu erwerben. Viele Gespräche mit erfahrenen Züchtern (auch anderer Rassen) und der Besuch vieler Hundeausstellungen (früher auch „Zuchtschauen“ genannt) schärfen mit der Zeit das Auge und vermitteln die Kenntnis der eigenen Rasse.
Würde man beispielsweise einen Anfänger fragen, woran man einen „guten“ Dalmatiner erkennen würde, bekäme man meist Antworten, die sich auf Qualität und Verteilung der Tupfen beziehen. Fragt man einen kompetenten Züchter nach den Eigenschaften eines guten Dalmatiners, wird man sofort einen Kurzvortrag über die Funktion der Rasse (Laufhund) und daraus resultierend über die körperlichen Voraussetzungen eines athletischen Dauerläufers bekommen, vermutlich gefolgt von einer Lobrede über den typischen Charakter eines Dalmatiners.
Doch auch die Kenntnis der körperlichen Voraussetzungen reichen noch nicht für eine langfristig erfolgreiche Zucht. Wie eingangs erwähnt, möchte man auch innerhalb der Rasse bzw. deren einzelnen „Zuchtlinien“ bestimmte Eigenschaften festigen, andere Eigenschaften vermeiden. Wie kann man solche hohen Ziele erreichen? Auch hier ist klar, dass man nicht aus Büchern allein schlau werden kann. Eine tiefe Kenntnis der „Szene“ ist notwendig. Welche Zuchtlinie könnte bestimmte Risiken in sich tragen, z.B. Erbkrankheiten? Wie kann ich diese Risiken minimieren? Welche Risiken bringen meine eigenen Zuchttiere mit? Wie werden bestimmte Eigenschaften überhaupt vererbt? Hier ist genetische Kenntnis wichtig. Informationen über andere Zuchtlinien kann man meist nur in Gesprächen mit anderen Züchtern bekommen, also auch hier sind Kontakte durch Ausstellungen etc. extrem wichtig.

Wie erreiche ich denn nun meine züchterischen Ziele?
Neben dem oben Genannten ist die wichtigste Voraussetzung, dass geeignete Zuchttiere zur Verfügung stehen. In diesem Zusammenhang hört man oft das Wort „Genpool“. Dieses Wort beschreibt, dass es für jedes Gen unterschiedliche Varianten gibt und diese dann in allen möglichen Kombinationen vorkommen können. In der Biologie geht man meist davon aus, dass eine Gruppe an (höheren) Lebewesen erst dann dauerhaft vermehrungsfähig ist, wenn mindestens 80-100 (möglichst unverwandte) Tiere zu dieser Gruppe gehören. In der Haustierzucht übt der Mensch eine künstliche Selektion aus, und viele Tiere derselben Rasse sind mehr oder weniger stark zueinander verwandt. Viele Fachleute gehen deshalb davon aus, dass z.B. eine Hunderasse aus mindestens 1000 Tieren bestehen muss, damit der Genpool genügend variabel ist.
Zucht kann also nicht im Hinterzimmer stattfinden, und sie kann nicht funktionieren, wenn man keine gesicherten Informationen über die Zuchttiere und deren Abstammung hat. Vor ca. 100 Jahren hat sich die Hundezucht im heutigen Sinne entwickelt: alle Verpaarungen werden dokumentiert („Zuchtbuch“), Informationen über die Welpen gesammelt und die Ahnen der Hunde auf einer Ahnentafel festgehalten. Die Züchter haben sich in Vereinen zusammengefunden, denn nur in Zusammenarbeit kann dieses Hobby erfolgreich praktiziert werden.

In Deutschland gibt es insgesamt vier Dalmatinerzuchtvereine, der älteste wurde bereits 1920 gegründet. Die vier Rassezuchtvereine sind Mitglied im VDH (Verband für das deutsche Hundewesen). Der VDH schafft hierbei nur gewisse Rahmenbedingungen für die Hundezucht allgemein und überlässt es den einzelnen Vereinen, die Zucht zu gestalten.

Der internationale Dachverband ist die FCI (Fédération Cynologique Internationale), der sowohl der VDH (Verein für das Deutsche Hundewesen) als auch die Zuchtvereine vieler anderer Länder angehören. Ausnahmen bilden Länder wie Großbritannien oder USA, die eigene Zuchtvereine haben; diese kooperieren jedoch mit der FCI, so dass auch Züchter aus diesen Ländern mit deutschen Züchtern ohne Probleme zusammenarbeiten können.

Natürlich war es von Anfang an nötig, einen „gemeinsamen Nenner“ festzulegen. Werfen wir mal einen Blick auf unser aller liebstes Hobby, den Fußball. Warum können wir uns alle vier Jahre so herrlich als Fans bei einer Weltmeisterschaft ausleben? Natürlich nur, weil Fußball in jedem Land in etwa gleich gespielt wird. Das Spielfeld ist immer gleich groß, ebenso die Tore. Regeln zu Abseits oder Foul gelten überall. Somit kann ein Schiedsrichter aus USA ein Spiel einer asiatischen gegen eine afrikanische Mannschaft leiten, und die zugehörigen Trainer sind vielleicht aus Spanien und Deutschland. Was würde passieren, wenn eine Mannschaft plötzlich den Ball mit der Hand führen würde. Es wäre ein Foul. Und würde man nur noch mit der Hand spielen, wäre es plötzlich kein Fußballspiel mehr. Jedes Hobby braucht Regeln, wenn es auf einem bestimmten Niveau und mit mehreren Menschen ausgeübt werden soll.

Ausgehend von Herkunft und Funktion wurde für jede Hunderasse ein international gültiger Rassestandard erarbeitet, der von der FCI verwaltet wird und für alle Mitglieder gültig ist. Der Standard beschreibt die Rasse bis ins Detail, lässt hier allerdings in bestimmten Grenzen auch Varianz zu. Für den Dalmatiner gültig ist der FCI-Standard Nr. 153. Der Standard ist also gewissermaßen ein Spiegel dessen, wie der ideale Dalmatiner aussehen würde; dies betrifft optische Regeln (Fellfarbe, Fellstruktur,…), aber auch Körperbau, Charakter, Gesundheit. Anhand dieses Standards können Hunde auf Ausstellungen bewertet werden, können Züchter ihrem Hobby nachgehen, und es können sich auch interessierte Hundefreunde ein Bild der Rasse machen. Alle Zuchtvereine und Züchter, die Mitglied in der FCI, dem VDH oder vergleichbaren Clubs wie dem englischen Kennel Club oder dem Amerikanischen Kennel Club sind, sind dem jeweils in ihrem Verein gültigen Standard verpflichtet. Eine Änderung des Standards ist nach bestimmten Regeln möglich, somit ist eine Modernisierung bzw. sinnvolle Anpassung des Standards möglich. Die FCI delegiert diese Aufgabe an den Zuchtverein des Landes, aus dem die Hunderasse ursprünglich stammt. Im Falle des Dalmatiners ist somit der kroatische Zuchtverein für mögliche Änderungen des Standards verantwortlich. Der momentan geltende Standard stammt aus dem Jahr 2011.

Was passiert, wenn ein Züchter nicht Mitglied eines solchen international anerkannten Zuchtvereins sein will, also die Regeln der FCI nicht einhalten will?
Die Vermehrung von Tieren ist nicht gesetzlich verboten, zumindest solange das Tierschutzgesetz eingehalten wird. Es wäre also völlig legal, sozusagen im Hinterzimmer Tiere zu vermehren; egal ob man hierbei finanzielle Interessen oder eigene „züchterische“ Vorstellungen verfolgt. Auch ist es nicht verboten, einen neuen Zuchtverein zu gründen, der sich seine eigenen Regeln schreibt und nicht Mitglied im VDH/FCI werden möchte. Moralisch grenzwertig kann es allerdings werden, wenn man eigene „Ahnentafeln“ erstellt und somit beim Laien das Gefühl erweckt, es würde sich um Ahnentafeln (Abstammungsnachweise) im Sinne des VDH handeln. Die Ahnentafel ist zwar für viele Welpenkäufer nicht besonders wichtig, für Züchter ermöglicht sie jedoch, die Ahnen und selbst weitläufige Verwandte des betreffenden Tieres über viele Generationen herauszufinden und somit wertvolle Informationen über die genetische „Ausstattung“ sowie Risiken zu bekommen.

Tiere, die nicht aus VDH/FCI-Zuchten stammen, verfügen über keine Ahnentafel; insofern ist auch keine seriöse „Ahnenforschung“ möglich. Somit sind Krankheitsrisiken nicht einschätzbar.

Das wichtigste Argument, warum eine seriöse Hobby-Zucht nur innerhalb der anerkannten Zuchtvereine möglich ist, ist die genetische Variabilität. Wie bereits erwähnt, gehen Fachleute davon aus, dass eine gesunde Zucht über viele Generationen nur möglich ist, wenn mindestens 1000 Tiere zur Verfügung stehen. Eine solche Zahl an Zuchttieren steht nur in den FCI-Zuchtvereinen zur Verfügung. Diese Zuchttiere werden ausschließlich innerhalb der Vereine zur Verfügung gestellt, stehen also „Hinterhof“-Züchtern nicht zur Verfügung. Somit kann „im Hinterhof“ keine Selektion an Zuchtpartnern stattfinden, und der Genpool (also die Gesamtheit der genetischen Varianten) steht nicht zur Verfügung. Oft liest man das Argument, man würde den Genpool durch Hereinnahme einzelner neuer Varianten (z.B. andere Fellfarben) vergrößern. Dies ist sachlich völlig falsch: ein Hund verfügt über ca. 25.000 Gene. Wenn man nun bei einem einzigen Gen eine einzige neue Variante in den Genpool einführen würde (meist existieren diese Varianten ja sowieso schon im Genpool der Rasse, siehe „lemon“), hätte man keine merkliche Veränderung am Genpool vorgenommen. Wenn man jedoch im Gegenzug zwangsläufig auf die Mitgliedschaft in der internationalen Züchtergemeinschaft verzichtet und somit keinen Zugriff mehr auf tausende von FCI-registrierten Zuchttieren hat, muss man statt dessen auf eine Handvoll „eigener Zuchttiere“ zurückgreifen und hat den eigenen Genpool somit auf ein inakzeptables Minimum reduziert. Da derlei „Hinterhof-Züchter“ auch meist weder auf Ausstellungen noch Fortbildungen anzutreffen sind, den Kontakt zu Fachleuten und Wissenschaftlern meiden und auch keine Kontakte zur internationalen Züchtergemeinde pflegen, sind ihre Informationsquellen recht dürftig und unfundiert.

Ein seriöser Züchter ist sich bewusst, dass man ein Lebewesen nicht auf einzelne Merkmale reduzieren kann. Ein Hund ist die Summe seiner Eigenschaften und dies muss züchterisch berücksichtigt werden. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass „Seltenheitszucht“ (also die Zucht auf ein einzelnes seltenes Merkmal) oder auch „Extremzucht“ oftmals auch zur Qualzucht führt. In der berühmten englischen Dokumentation „Pedigree Dogs Exposed“ werden hier einige Beispiele genannt. Bestimmte Rassen wurden extrem auf ein einziges Merkmal gezüchtet, ohne das Augenmerk auf die allgemeine Gesundheit zu richten. Rassen ohne Schnauzen, die kaum noch atmen können, Rassen mit zu großen Köpfen, die nur noch per Kaiserschnitt auf die Welt kommen können, Rassen mit verkrüppelten Hüften, die kaum noch laufen können. Die Liste ließe sich fortsetzen. Hier sind schwere Fehler in der Zucht passiert, weil auf einzelne Merkmale extrem gezüchtet wurde, der Standard dahingehend angepasst wurde, die Extreme noch weiter übertrieben wurden, usw. Hier wurden also auch innerhalb der FCI-Zucht schwere Fehler begangen, weil einige entscheidende Leute ihren Einfluss geltend gemacht haben, um auf seltene Extreme zu züchten. Diese Fehler sind nicht passiert, weil man die Rasse erhalten hat und den Standard beachtet hat, sondern weil man auf das Extreme gezüchtet hat und den Standard dem „Markt“ und den Wünschen Einzelner angepasst hat. Beim Dalmatiner wurden derlei Auswüchse zum Glück bisher verhindert. Der Wunsch nach dem Seltenen, nach dem Extremen, damit verbunden kurzer züchterischer (und finanzieller?) Erfolg sind Gefahren, gegen die sich die Züchtergemeinschaft bisher erfolgreich wehrt.

In diesem Sinne bedeutet Zucht also, die Rasse zu bewahren und sie nicht zu verändern. Eingriffe in den Standard, mit dem Ziel, das Seltene zu fördern und zu übertreiben, haben mache Rasse an den Rand des Abgrunds geführt. Die Einführung neuer „Varianten“ ist nur dann sinnvoll, wenn es klare gesundheitliche Argumente gibt. Aber auch hierfür gibt es Regeln bei der FCI: es ist sogar möglich und gewünscht, eine andere Rasse einzukreuzen, wenn man dadurch z.B. eine genetische Krankheit bekämpfen kann. Natürlich würde auch dies in kontrollierten Zuchtprogrammen vor sich gehen. Jeder seriöse Züchter wird versuchen, seine eigene Zucht zu verbessern, um dem „Ideal“ des Standard-Dalmatiners immer näher zu kommen. Verbesserung der eigenen Zucht unter Beachtung des Standards bewahrt somit die schöne Rasse der Dalmatiner.